Wofür wir stehen und was wir ändern sollten

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4. Übergeordnete Ziele und Themen zu betonen, führt daher oft zu Vertrauensverlust, selbst wenn wir erfolgreiche Politik im Sinne der übergeordneten Ziele betreiben. Denn unsere Wähler interpretieren Erfolgsmeldungen bei diesen Themen als weiteren Hinweis dafür, dass wir uns für ihre Belange nicht mehr interessieren und dafür andere Themen verfolgen. Dies lässt sich am Beispiel der Hartz-Gesetze verdeutlichen. Völlig unabhängig davon, ob sie wirklich eine bzw. die Ursache für den Abbau der Arbeitslosigkeit waren: weder 2009 noch 2017 haben wir mit diesem  Abbau offensiv Wahlkampf gemacht, weil wir spürten, dass wir damit nicht punkten können, solange die Spanne bei Einkommen und Vermögen weiter auseinandergeht oder auf hohem Niveau stagniert. Ähnliches gilt aber auch für den Klima- und Umweltschutz, die Flüchtlingspolitik oder die gesellschaftliche Gleichstellungspolitik. Denn für viele unserer – leider: ehemaligen – Wähler sind der Frauenanteil in den Aufsichtsräten der deutschen Großunternehmen, das Werbeverbot für Abtreibungen, der Familiennachzug für Flüchtlinge, die Stickoxid-Grenzwerte, die Interviews von Herrn Maaßen – alles Themen, die in den letzten Monaten Schlagzeilen machten – angesichts von Fragen, wie und ob sie ihrem Kind die Klassenfahrt  finanzieren, wie sie kostengünstig zum Arbeitsplatz kommen, ob sie endlich mal wieder in den Urlaub fahren können, Themen von untergeordneter Bedeutung.

Gleichzeitig haben jene Wähler, denen diese Themen extrem wichtig sind, schon eine Partei, an die sie sich wenden können: die Grünen. Damit sind wir in eine Situation geraten, in der wir Wähler auf beiden Seiten verlieren: die ehemaligen Stammwähler, denen diese Themen nicht wichtig sind, und die Wähler, die schon immer dachten, dass diese Themen wichtig sind, und deshalb nun die Partei wählen, die diese Themen als Markenkern ausweist.

5. Wir müssen alle Politiken daraufhin überprüfen, ob und inwieweit sie den Interessen unserer Wähler widersprechen, also höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen, sozialer Sicherheit (Stichwort: Grundrente), öffentlichen Investitionen für Wohnungsbau, Bildung und Infrastruktur (Straßen, Schienen, Netze). Diese Überprüfung muss zur Folge haben, dass wir uns im Konfliktfall gegen andere Ziele entscheiden, selbst wenn uns diese ebenfalls am Herzen liegen. Nur so gewinnen wir wieder an Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Bezahlbarer Wohnraum ist ein zentrales Anliegen unserer Wähler. Dann dürfen für uns weder die „Schwarze Null“ noch Umwelt- und Klimaschutz Argumente sein, Aktivitäten in diesem Bereich zu stoppen. Wenn der Niedriglohnsektor ein Problem ist, und er ist ein Problem, können wir dem EU-Beitritt der Balkanstaaten nicht zustimmen (zumindest nicht mit Zugang zum EU-Arbeitsmarkt), weil wir sonst den Lohndruck in diesem Sektor weiter erhöhen.

6. Sozialdemokratische Interessenpolitik ist kein Rückfall in die achtziger Jahre und auch keine Absage an die junge Generation und ihr Lebensgefühl. Vielmehr ist sie notwendig, um sich im Verteilungskampf, in dem sich die westlichen Gesellschaften spätestens seit der globalen Finanzkrise befinden, klar zu positionieren. Dieser Verteilungskampf ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Entwicklung in nahezu allen entwickelten westlichen Volkswirtschaften: die Realeinkommen der Menschen in der unteren Hälfte der Einkommensskala sind kaum gestiegen und je weiter man in die unteren Einkommensregionen vorstößt sogar gefallen. Diesen Verteilungskampf nutzt die politische Rechte in Europa und in den USA sehr geschickt und erfolgreich, um ihre Kernthemen, die illiberal Demokratie, die Schleifung von Grund- und Menschenrechten, den Rückzug auf das Nationale und Völkische durchzusetzen, ohne diese Themen bewusst in den Mittelpunkt stellen zu müssen. Der Arbeiter in den Braunkohlewerken wählt nicht AfD, weil er rassistisch oder gegen Umweltschutz ist, sondern weil er seinen Job nicht verlieren will; der Dauerarbeitslose in Italiens Süden wählt nicht die Lega, weil er Flüchtlinge im Meer ertrinken lassen will, sondern weil er sich von ihr die Schaffung von Arbeitsplätzen erwartet; die Hausfrau in Michigan wählt nicht Trump, weil sie frauenfeindlich ist, sondern weil ihr Mann seit dreißig Jahren keine Reallohnerhöhung gesehen hat. Die Zustimmung zu rechtspopulistischen Parteien beruht eben zum großen Teil darauf, dass sie populistisch, also populär sind, weil diese Parteien vorgeben, sich der Sorgen und Nöte dieser Menschen anzunehmen.


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